von Dr. Carl-Christian Fey

Das Phänomen der Digitalisierung

Die Digitalisierung umfasst die Gesellschaft als Ganzes – sie ist damit nicht nur ein technisches sondern ebenso auch ein kulturelles Phänomen. Wir erleben weitreichende Umformungsprozesse, die unter anderen Arbeitswelt, soziales Zusammenleben, politische Prozesse, Sozialisationsprozesse und persönliche Identitätskonstruktionen verändern. Auch die Akteure des Bildungssystems müssen sich zu diesem Phänomen verhalten und gemäß ihres Bildungsauftrags gegenüber den nachfolgenden Generationen entscheiden, in welcher Form und in welchem Umfang auch das Lehren und Lernen in formalen Bildungsprozessen “digitalisiert” werden kann und soll.

In diesem Zusammenhang ist es hilfreich sich darüber klar zu werden, dass “Digitalisierung” nicht einfach nur bedeutet Dinge, die man früher “analog” getan hat, jetzt “digital” zu tun (z.B. digitales Whiteboard statt Tafel). Charakteristisch für das Phänomen der Digitalisierung und die mit ihr verbundenen Umwälzungsprozesse ist ja gerade nicht nur das Digitale “an sich”, es ist zuerst und vor allem die Vernetzung von Daten, Dingen (Geräte, Devices, Sensoren), Prozessen/Algorithmen, Werkzeugen miteinander. Dieses immanente Prinzip der Digitalisierung wird in modernen Gesellschaftsvisionen und Beschreibungen der neuen Arbeitswelt gerne mit Begriffen wie “Hyperconnected Society” bzw. “Industrie 4.0” beschrieben.

Ein alternatives Prozessverständnis – Vernetzung und Interoperabilität

Der eigentliche “Mehrwert” (betriebswirtschaftlich gesprochen: die Wertschöpfung) der neuen digitalen Welt, die sich nun vor unseren Augen erst zu entfalten beginnt(!), liegt in der digitalen Vernetzung, des digitalen Austauschs, d.h. der Interoperabilität im digitalen Raum, nicht in der Digitalität an sich.

Dies ist auch für Bildungsprozesse relevant. Es macht daher Sinn, sich Bildungsprozesse auch einmal in ähnlicher Weise wie Arbeitsprozesse anzuschauen, um festzustellen, wo ein Mehrwert durch digitale Vernetzung entstehen kann. Welche Handlungen, welche Arbeitsschritte/Arbeitsabläufe lassen sich in Bildungsprozessen beobachten? Eine phänomenologisch motivierte Betrachtungsweise kann helfen, einzelne Handlungsbereiche – hier “Phänomenbereiche” genannt, zu identifizieren (vgl. Fey 2020):

Die Phänomenbereiche unterrichtlichen Lehrens und Lernens:

  • Das Darstellen / das Zeigen
  • Das Erklären
  • Das Hilfe-Geben / das Unterstützen
  • Das Nutzen von Lehr-Lernmitteln / Medien
  • Das Teilen / das Weitergeben von Ressourcen und Arbeitsergebnissen
  • Das Sich-Melden / das Sequenzieren von Interaktionen
  • Das Messen von Leistung / das Prüfen
  • Das Diagnostizieren des Lernstands
  • Das Produzieren / das Anfertigen von Arbeitsergebnissen
  • Das Kommunizieren / das Sich-Mitteilen / das Gespräch
  • Das Fragen / das Aufgaben-Stellen / das Antworten
  • Das Feedback-Geben
  • Das Kooperieren / das Kollaborieren
  • Das Organisieren / das Verwalten
  • Das Partizipieren / das (Mit-)Entscheiden
  • Das Socializing / das informelle Interagieren
  • Das Sich-Selbst-Organisieren
  • Das Reflektieren / das Nachdenken
  • Das Planen
  • Das Analysieren
  • Das Experimentieren / das Ausprobieren
  • Das Beobachten / das Dokumentieren
  • Das Schreiben / das Malen / das Skizzieren

Das Verhältnis von analogen und digitalen Elementen im Bildungsprozess

Auch die Digitalisierung der Arbeitswelt und des Sozialen ist nicht vollständig “digital”. Die Tonaufzeichung eines Smartphones besteht in der Umwandlung (Digitalisierung) eines analog gemessenenen Signals und Sensor-Messwerte in einer industriell-automatisierten Fabrik werden auch weiterhin analog erfasst.

Auch in Bildungsprozessen muss (kann) es nicht darum gehen einfach alles pauschal zu digitalisieren – auch (klassische) analoge Arbeitsformen können einen starken Eigenwert haben, da sie der interpersonellen Interaktionsstruktur von Bildungsprozessen enstprechen – letzlich sind es Menschen, die Lehren und Lernen und möglicherweise lassen sich auch manche “analogen” Formen gar nicht sinnvoll digitalisieren. Das führt zu dem Schluss, dass in Bildungsprozessen sowohl analoge als auch digitale Arbeitsprozesse verkommen und oftmals auch sinnvoll zu hybriden Prozessen kombiniert werden.

Im Bildungsbereich, in dem die Interaktion von Menschen miteinander im Vordergrund steht, sind Handlungs- und Verhaltenssicherheit wichtige Kriterien für gelingende Kommunikation. In Unterricht und Hochschullehre werden daher verschiedene Handlungsmuster, die dazu dienen diese Interaktion zu regeln, fast rituell verstetigt (z.B. das Sich-Melden, das Fragen und Antworten, das Präsentieren mit bestimmten Präsentationsmedien, etc.). Es macht daher auch für Digitalisierungsprozesse im Zusammenhang von Lehren und Lernen Sinn, einen relativ-statischen primären Kernbereich des Lehr-Lernhandelns von einem sekundären Bereich zu unterscheiden, in dem mehr Flexibilität für Neues und Experimentelles vorhanden ist. Dieser Gedanke wird im nachstehen Core-Augment-Modell verdeutlicht (vgl. Fey 2020).

Das Core-Augment-Modell der Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen:

Unter der Maßgabe, dass es nicht darum geht, jedes einzelne Element von Lehr-Lernprozessen vollständig durch digitale Technologien zu gestalten, ergibt sich die Möglichkeit die Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen als dynamisches Verhältnis von analogen und digitalen Methoden, Prinzipien und Techniken/Technologien zu begreifen, das fortlaufend entwickelt wird bzw. weiterentwickelt werden kann.

Fey 2020, S. 5

Die Prinzipien der Anwendung auf Lehr-Lernprozessen

Mittels der dargestellten Phänomenbereiche und mit Hilfe des Core-Augment-Modells können Überlegungen angestellt werden, an welcher Stelle und in welcher Form (digital, analog, hybrid) bestimmte Handlungen bzw. Elemente innerhalb des Lehr-Lernprozesses funktional integriert und “digitalisiert” werden können. Dabei ist vor allem der Zusammenhang, d.h. der Austausch von Arbeitsergebnissen bzw. der Austausch der unterschiedlichen “Produkte” dieser Lehr-Lernhandlungen wichtig – oder mit anderen Worten gesprochen: das Zusammenspiel (technisch gesprochen die Interoperabilität) zwischen den einzelnen Elementen des Lehr-Lernprozesses.

Sieben Prinzipien können hier handlungsleitend sein, die wiederum in Anlehnung an Charakteristika von generischen Digitalisierungsprozessen sowie an Kompetenz- und Bildungszielen des Lehrens und Lernens in der digitalen Welt beschrieben werden können (vgl. Fey 2020, S. 7-8).

Die 7 Prinzipien der Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen:

I. Das Prinzip der Prozessorientierung
Alle Elemente des analogen/hybriden/digitalen Lehr-Lernprozesses innerhalb eines Phänomenbereichs verweisen aufeinander. Ihre Anknüpfungspunkte und ihre Ergebnisse (technisch gesprochen ihr Input/Output) sind für weitere Schritte im Lernprozess relevant und verwendbar.

II. Das Prinzip der Problem-/ bzw. Zweckorientierung
Alle Elemente des analogen/hybriden/digitalen Lehr-Lernprozesses antworten auf ein bestimmtes Problem/verfolgen einen bestimmten Zweck, das/der sich innerhalb des Lehr-Lernszenarios stellt, und bieten eine Lösung für dieses Problem/eine Methode für diesen Zweck an. Darüber hinaus haben generell die Elemente des Lehr-Lernprozesses eine Funktion in einer übergeordneten Problemorientierung des Lehr-Lernprozesses.

III. Das Prinzip der Integration bzw. der Kompatibilität
Elemente des analogen/hybriden/digitalen Lehr-Lernprozesses und ihre Ergebnisse (ihr Output) sind auch zwischen den unterschiedlichen Phänomenbereichen nahtlos weiterverwendbar bzw. mit nur geringem und definier- und für den Lehr-Lernprozess nicht disruptivem Aufwand transferier- und weiternutzbar […].

IV. Das Prinzip der minimierten Redundanz
Elemente, die den Lehr-Lernprozess ausmachen, sind in ihren Funktionen bzw. in ihrer Problemlösung nicht oder nur in geringem Ausmaß redundant, um die Komplexität der verwendeten Elemente im Lehr-Lernprozess auf Seiten der Lernenden möglichst gering zu halten […].

V. Das Prinzip der gezielten Redundanz
Elemente, die den Lehr-Lernprozess ausmachen, können absichtsvoll redundant sein. Redundant sind solche Elemente, die grundlegend das gleiche Problem lösen bzw. den gleichen Zweck verfolgen. Das kann sinnvoll sein, um den Lernenden und Lehrenden je nach individuellen Präferenzen alternative Möglichkeiten zu bieten und um nicht auf ein einziges Element angewiesen zu sein. Eine solche (informationstechnisch gesprochen) Fall-Back-Möglichkeit kann insbesondere auch dann sinnvoll sein, wenn noch keine etablierten und technisch verlässlichen digitalen (oder analogen) Technologien existieren.

VI. Das Prinzip der Lernendenzentrierung („User Experience“)
Ausschlaggebende für die Nutzung/Weiternutzung eines Elements im analog-digitalen Lehr-Lernszenario ist die Frage, ob eine gewünschte positive und erfolgreiche Nutzung auf Seiten der Lernenden erfolgt bzw. ob die Nutzungserfahrung (informationstechnisch gesprochen: User Experience) positiv ist […].

VII. Das Prinzip der holistischen Förderung digitaler Kompetenzen
Digitale Kompetenzen können und müssen sowohl auf fachlicher Ebene als auch auf überfachlicher Ebene formuliert werden (für überfachliche Kompetenzrahmen vgl. z.B. DigComp, DigCompEdu, 4C, Medienkompetenzrahmen NRW). Sie müssen im Konglomerat der Phänomenbereiche vollständig repräsentiert sein, ohne dass jedoch definiert ist, an welcher Stelle (in welchem Phänomenbereich) oder auf welcher Integrationsebene (Core/Augment) sie repräsentiert sind.

Anhand dieser Prinzipien ist es möglich, die oben genannten Phänomenbereiche des Lehrens und Lernens gezielt ins Auge zu fassen, um nach konstruktiven Potenzialen ihrer “Digitalisierung” zu suchen und so letztlich begründet Entscheidungen für die spezifische Integrationen bestimmter digitaler Technologien in Lehr-Lernprozesse zu fällen.


Literaturverweis:

Fey, Carl-Christian (2020): Das Phänomenmodell der Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen. Augsburg. Online verfügbar unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:384-opus4-814353.